Gabriele von Arnim: «Ein Schrecken jagte den anderen»
Shownotes
Zehn Jahre lang pflegte die deutsche Autorin Gabriele von Arnim ihren Mann zu Hause, nachdem er einen Schlaganfall erlitten hatte. Am selben Tag hatte sie ihm gesagt, dass sie sich trennen wolle. Wie ging sie mit Schuldgefühlen um? Wie veränderte sich die Beziehung, während die Kommunikation stark eingeschränkt war? Im Palliaviva-Podcast spricht Gabriele von Arnim offen über die «Katastrophe» von damals.
Ihre existenzielle Erfahrung hat sie im Bestseller «Das Leben ist ein vorübergehender Zustand», erschienen im Rowohlt-Verlag, verarbeitet.
Der Artikel zum Podcast: www.palliaviva.ch/blog
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Frau von Arnim, in Ihrem Leben gab es diesen Tag X, der Ausgangspunkt für das war, was Sie in Ihrem Buch beschreiben. An diesem Tag geschah etwas, das Ihr ganzes Leben beeinflusst hat. Was war das?
Sie umschreiben das jetzt gerade sehr elegant, vorsichtig und geheimnisvoll. Aber ja, den Tag X gab es tatsächlich. Man denkt ja immer, das passiert einem nicht, und dann passiert es plötzlich doch. Mein Mann hatte einen Schlaganfall, zehn Tage später den zweiten, war dann in der Intensivstation und monatelang in der Reha. Danach war er zehn Jahre zu Hause und konnte nicht richtig sprechen; also nicht so, dass ihn Leute verstanden haben. Ich konnte ihn dann irgendwann ziemlich gut verstehen. Er konnte nicht laufen, er konnte nicht schreiben und war ein Gefangener in seinem Körper. Es war für ihn wirklich eine Katastrophe. Er war früher ein unglaublich vitaler Mann gewesen, der viel vom Reden gelebt hat, der es liebte, mit Menschen zu diskutieren und öffentlich zu disputieren. Und nun sass er auf einmal da, war gelähmt, konnte nicht sprechen, nicht lesen und nicht schreiben. Es war wirklich eine Katastrophe, und dann haben wir versucht, aus dieser Katastrophe auf irgendeine Art und Weise ein Leben zu basteln, das uns dennoch immer wieder auch Freude gemacht hat.
Und zu der Katastrophe kam hinzu – und das machte die Situation noch etwas komplexer –, dass ich an dem Tag, an dem er abends den ersten Schlaganfall hatte, zu ihm gesagt hatte, ich könne nicht mehr leben mit ihm. Das heisst, es kamen mein Trennungswunsch und der Schlaganfall an einem Tag. Das hat natürlich auch nochmals einige Turbulenzen ausgelöst, aber in dem Moment, in dem er im Krankenhaus landete und man mich anrief und ich dorthin raste, spielte alles, was ich mittags gesagt hatte, auf einmal keine Rolle mehr. Da war ein Mensch in Not, ein Mensch, mit dem ich schon sehr lange zusammengelebt hatte, und es ging nur noch darum, diesen Menschen jetzt irgendwie zu retten oder ihm zu helfen.
Ich erzählte einer Freundin, dass wir dieses Gespräch führen würden und fasste diesen Tag X kurz zusammen. Da fragte mich die Freundin: «Warum ist sie geblieben?»
Was hätte ich denn sonst tun sollen? Man kann doch einen Menschen, der so in Not und so komplett auf andere angewiesen ist, nicht plötzlich alleine lassen und sagen: «Sieh’ mal zu, wie du fertig wirst.» Das halte ich für völlig ausgeschlossen, auch aus egoistischen Gründen. Ich glaube nicht, dass man danach wieder glücklich werden kann, wenn man jemanden so hat sitzenlassen. Das ist ja so, als ob man einen Verletzten auf der Strasse liegen lässt, nur weil man sich eigentlich gerade trennen wollte von ihm. Das würde man ja auch nicht tun. Und ausserdem ist es ja nicht so, dass man den Menschen komplett ablehnt, wenn man sich nach 20 Jahren Gemeinsamkeit trennen will. Da ist ja nach wie vor eine grosse Vertrautheit, und es ist ja auch noch ein inneres Mögen, auch wenn man mit dem Menschen nicht mehr zusammenleben möchte. Das sind ja ganz verschiedene Dinge.
Das ist interessant, dass Ihre Freundin gefragt hat, warum ich geblieben sei. Die meisten Menschen fragten mich: «Hatten Sie nicht ein wahnsinniges Schuldgefühl? Mittags sagten Sie, Sie würden gehen oder könnten nicht mehr leben mit ihm, und abends hatte er den Schlaganfall.» Und auch diese Frage finde ich sehr berechtigt, denn man könnte ja wirklich denken, ich sei umgekommen vor Schuldgefühl – und das bin ich nicht.
Wie gingen Sie damit um?
Also erstens fand ich, ich hätte recht gehabt, zu sagen, dass es so nicht mehr weitergeht mit uns, weil ich ihn nicht mehr erreichen konnte. Und zweitens glaube ich, dass die anstehenden Probleme nach dem Schlaganfall so überwältigend waren, dass ich bestimmt auch verdrängt habe. Ich hatte keine Kraft mehr für Schuldgefühle. Es war eine Mischung aus dem Wissen, dass es okay war, es ihm gesagt zu haben, und dem, dass ich nichts dafürkonnte, dass er den Schlaganfall hatte. So habe ich es mir auf irgendeine Art und Weise zurechtgelegt. Und wie gesagt war da auch das Gefühl: Jetzt stehen andere Dinge an, und jetzt muss ich mich wirklich um anderes kümmern als darum, ob ich vielleicht Schuldgefühle habe. Das ist nicht vorrangig im Moment.
Sie gehen im Buch nicht darauf ein, weshalb Sie ihm sagten, es ginge so nicht weiter mit Ihnen. Jetzt sagten Sie: «Ich konnte ihn nicht mehr erreichen.» Das macht mich neugierig. Können Sie das kurz sagen, warum?
Nein, ganz bestimmt nicht. Da ich es nicht geschrieben habe, werde ich es Ihnen jetzt auch nicht sagen. Ich habe sehr viel erzählt in dem Buch und natürlich sehr viel mehr nicht erzählt, und das geschah auch ganz bewusst so, denn ich versuchte schon, sehr persönlich zu erzählen, weil ich finde, wenn man von Krankheit erzählt, muss man sie persönlich und auch krude erzählen, so krude, wie Krankheit ist. Aber ich habe immer die Grenze gezogen zwischen Persönlichem und Privatem. Und Privates habe ich für mich behalten und werde es auch weiterhin tun.
Ihr Buch ist ja auch eine interessante Mischung zwischen persönlichem Schreiben und literarischem Schreiben. Das ist ja auch eine Kunst …
Es hat ja auch lange gedauert, bis mir das – hoffentlich – gelungen ist. Ich hatte zwei, drei Jahre vor seinem Tod schon mal angefangen zu schreiben, weil ich dachte: Ich hab’ so Existenzielles erlebt, und ich schreibe. Also muss das irgendwie zusammenkommen. Da habe ich 60, 70 Seiten geschrieben, mochte aber den Ton und das Ganze nicht und hab’s dann sicher drei, vier Jahre liegen lassen. Aber die Dringlichkeit war da, und dann habe ich es wieder hervorgenommen und hab dann diesen Ton gefunden. Man kann das Buch ja auch als Roman lesen, es ist eine Erzählung, die auf dem basiert, was tatsächlich geschehen ist.
Sie konnten sich bei Ihren Erinnerungen und beim Schreiben auch auf Ihre Tagebücher stützen. Wie regelmässig schrieben Sie in Ihr Tagebuch?
Am Anfang sehr regelmässig, weil das für mich eigentlich die einzige Zeit war, in der ich ein bisschen zur inneren Ruhe kam. Ich war die ganze Zeit getrieben von Angst und Unruhe und Überlegungen, was ich sonst noch machen könnte, was mir noch einfällt, wo man noch helfen und Ideen entwickeln kann. Ich wollte Ärzte und Therapeuten finden, die vielleicht nochmals andere Ansätze haben. Und wenn ich in mein Tagebuch schrieb und erzählte, was passiert, dann war es so, als ob ich etwas erzähle, das ich nicht wirklich erlebe. Ich stellte also eine kleine Distanz her zwischen dem Erlebten und dem Erzählten. Deswegen war das Tagebuchschreiben für mich auch eine therapeutische Massnahme. Das hat mir einfach geholfen, mal ein bisschen durchzuatmen.
Sie brauchten diese Distanz, denn Sie schreiben ja auch irgendwo: «Ein Schrecken jagte den anderen.» Können Sie ein Beispiel dafür nennen, was da passierte?
Es passierten andauernd irgendwelche Sachen. Mal hatte er eine Lungenembolie, mal hat er auf irgendein Medikament so reagiert, als ob er einen Herzinfarkt gehabt hätte. Es war dann aber ein falsches Medikament, das sie ihm gegeben hatten. Mal hatte er einen Dekubitus, der operiert werden musste, und das war natürlich eine Katastrophe, diesen Mann, der gerade zwei Schlaganfälle hinter sich hatte, zu operieren und ihm eine Narkose zu geben. Es gab immer einen neuen Grund für neue Ängste. Dann musste er eine Augenoperation haben … Ich will jetzt gar nicht alles aufzählen, aber es war wirklich ein Schrecken nach dem anderen. Ich bin sowieso eine eher ängstliche Person, was solche Sachen angeht.
Ich war in einem permanenten Angstzustand, was ich nachträglich sehr bedauere, weil ich denke, es war für ihn auch eine Belastung, dass ich immer dachte: «Oh Gott, was ist jetzt? Was passiert jetzt? Geht das jetzt gut? Schaffen wir das?» Dann rutschte irgendwann der Kreislauf total runter, dann gab’s mit dem Herzen Komplikationen, da kam eins nach dem anderen. Ich wünschte, ich hätte etwas mehr Gelassenheit gehabt, für ihn und für mich. Insofern war das eine harte Zeit. Wenn ich sagen würde, es sei eine unruhige Zeit gewesen, wäre das wirklich sehr untertrieben. Vielmehr war es oft eine panische Zeit. Ich bekam richtige Panikattacken, weil ich dachte: «Wie geht’s denn jetzt weiter, was kann ich denn noch tun? Warum fällt mir nichts ein?» Das war irgendwie der Alltag.
Sie haben Ihren Mann ja nach Hause geholt nach dem Spitalaufenthalt und der Rehabilitation. War das von Anfang an klar, dass er zu Hause sein würde?
Das war von Anfang an klar. Allerdings habe ich immer gesagt, er könne erst wieder nach Hause kommen, wenn er wieder laufen und alleine aufs Klo gehen, also die basalen Notwendigkeiten selbst erledigen könne. Das war total naiv, weil daran war gar nicht zu denken. Er kam nach Hause, und er konnte nicht sprechen und nicht aufstehen. Er konnte sich nicht alleine aus dem Bett bewegen, er konnte eigentlich gar nichts alleine. Eine Hand wackelte, und die andere war gelähmt. Er war wirklich sehr behindert. Aber dass er nach Hause kommen würde, war immer klar. Ich wollte nie, dass er in ein Heim kommt, unter anderem, weil er so gut versichert war, dass ich wusste: Ich kann es mir leisten, Hilfe zu holen. Hilfe zu finden ist dann noch ein anderes Thema, das war dann auch nicht so einfach, aber ich hatte das grosse Glück, dass ich eine Person gefunden habe, die dann sehr, sehr viel gekommen ist und mir sehr viel geholfen hat.
Was heisst sehr viel? Jeden Tag?
Sie war fast jeden Tag da, und das war meine Rettung, weil sie ihn verstanden hat, weil sie lustig war, weil sie gelacht hat mit ihm, sein Sprechen verstand. Er konnte ja sprechen. Sein Artikulationszentrum war getroffen, nicht sein Sprachzentrum.
Wie muss ich mir die Kommunikation vorstellen? Sie hatten ja eine intensive Verständigung mit Ihrem Mann …
Versuchen Sie sich mal vorzustellen, sie wollten mit einem Kleinkind reden. So war das ein bisschen mit meinem Mann. Ich konnte ihn nach einer Weile sehr gut verstehen, das hat sich dann später wieder ein bisschen gelegt, weil das Sprechen wieder schlechter wurde, aber einige Jahre ging es ziemlich gut.
Da half sicher die Zeit, die Sie vorher mit ihm verbracht hatten. Sie waren insgesamt dreissig Jahre mit ihm verheiratet, bis er dann starb. Zwanzig Jahre, bis er diese Schlaganfälle hatte. Sie kannten ihn einfach sehr gut.
Ja, das hat natürlich geholfen. Ich kannte sein Leben und seinen Hintergrund, ich kannte seine Ideen und seine Interessen. Ich kannte und wusste viel über ihn, und er hat sich auch sehr verändert. Wir mussten uns beide natürlich verändern durch diese unglaublich intensive, schwierige und auch schöne Zeit, denn das Verrückte war ja, dass er immer wieder unglaublich gelacht hat. Jeden Morgen, wenn ich in sein Zimmer kam, haben wir erstmal über etwas gelacht. Das war schon immer unsere Rettung. Wir konnten immer gut zusammen lachen. Er hatte irgendwie einen schrägen Humor, den ich sehr gerne mochte, und das Lachen hat uns auch in dieser Krankheitszeit gerettet. Das war toll, das sind wie immer diese Widersprüche des Lebens. Auf der einen Seite sagt jemand: «Ich will nicht mehr leben», und auf der anderen Seite lacht er sich schlapp, und das alles am selben Tag. Diese Schönheit der Widersprüche finde ich ganz herausfordernd und auch bereichernd.
Er hat mehrfach geäussert, er wolle nicht mehr leben. Aber das andere, das Schöne, das Lachen gab Ihnen Kraft, und auch die Gewissheit, dass er einen Funken Lebenswillen – oder mehr als einen Funken Lebenswillen – hat?
Absolut. Er hat es mal häufiger und mal weniger häufig gesagt, dass er nicht mehr leben wolle. Am Anfang kam es häufiger vor, da hat er immer gesagt: «Gib dir nicht so viel Mühe. Sobald ich kann, bringe ich mich um.» Aber so weit ist er nie gekommen, dass er sich selbst hätte umbringen können. Er hätte weder aufstehen können, um sich aus dem Fenster zu stürzen, noch hätte er Pillen nehmen können. Er konnte ja nichts. Er hätte sich nicht umbringen können. Er hätte es gar nicht geschafft, wenn er gewollt hätte. Und zum Glück hat er mich nie gefragt, ihm zu helfen.
Woher nahmen Sie die Kraft? Können Sie das nachvollziehen?
Eigentlich nicht. Ich frage mich manchmal nachträglich, wie das alles gelaufen ist, also wie ich die Kraft einigermassen bewahrt habe. Das konnte ich nicht immer, ich hatte auch meine Zusammenbrüche, solche Momente, in denen ich dachte: «Ich schaffe es einfach nicht mehr.» Allein das Psychische, dass man jeden Tag wieder versucht, jemanden aus dem Tief herauszuholen, aufzubauen und ihm Kraft zu geben. Und gleichzeitig versucht man, sich eigene Kraft zu holen aus Menschen, wobei man aufpassen muss, dass man diese Menschen nicht überfordert. Wenn man so am Ende ist, ist man unglaublich bedürftig. Ich jedenfalls war es, so dass ich die Nächsten manchmal überfordert habe mit meinem Schmerz, meinem Kummer, meiner Hilflosigkeit und meiner Verzweiflung.
Literatur hilft dabei enorm, weil es in der Literatur sehr oft auch um existenzielle Themen geht, und da begreift man anderes Elend. Man lebt in der Literatur in einem anderen Elend und nicht im eigenen. Das heisst, es ist auch eine Flucht, und Literatur ist für mich auch immer wieder Verständnishilfe. Ja – und dann war da immer wieder die Suche nach Trost: Trost im schönen Blumenstrauss, Trost im guten Blutbild, Trost in einem guten Essen. Ich habe viel gekocht in dieser Zeit, wir haben jeden Abend zusammen gegessen. Also fast jeden Abend, ich bin dann auch mal ausgegangen, wenn ich das konnte, als jemand da war. Aber auch nicht so übertrieben oft.
Ich möchte auf den Trost später noch zu sprechen kommen. Wenn wir aber noch einen Moment bei der Kraft bleiben: Es ist ja auch schwierig, weil man die Kraft nicht einteilen kann. Wenn man drinsteckt, weiss man nicht, wie lange es dauert. Im Nachhinein wissen wir: Es waren zehn Jahre. Aber wie gingen Sie mit der Zeit um?
Gar nicht. Konnte ich ja gar nicht. Ich hatte ja keine Ahnung, wie lange es dauern würde. Ich habe natürlich auch lange noch gehofft, dass es besser würde. Er hat das länger gehofft als ich. Ich habe irgendwann ziemlich deutlich gesehen, dass es sich nicht verbessern würde, obwohl mir dann irgendwelche Ärzte gesagt haben: «Ihr Mann wird wieder sprechen, Ihr Mann wird wieder gehen.» Und dann verschwanden diese Ärzte auf Nimmerwiedersehen. Ich habe auch in dieser Hinsicht viel Grässliches erlebt; einige Szenen beschreibe ich ja auch im Buch. Und dann begegnete ich aber auch ganz wunderbaren Ärzten, die sich wirklich gekümmert und geholfen haben und da waren, wenn ich sie brauchte. Das waren einfach immer wieder wunderbare Menschen, die halfen. – Aber um auf Ihre Frage zur Kraft zurückzukommen: Nachträglich wundere ich mich auch, ich weiss nicht, woher ich sie nahm. Ich war natürlich jünger als jetzt. Heute, mit 77, würde ich das nicht mehr schaffen. Ich war 67, als er starb, und 57, als er krank wurde. Das ist natürlich ein grosser Unterschied.
2004, als Ihr Mann erkrankte, standen Sie als Journalistin und Autorin noch mitten im Berufsleben. Was bedeutete dieser Einschritt in dieser Hinsicht?
Ich habe versucht, nie ganz aufzuhören zu arbeiten, und durch diese schon erwähnte, wunderbare Pflegerin war es auch möglich, ab und zu noch etwas zu machen. Aber das alles war natürlich enorm reduziert. Ich hätte nicht noch die Kraft gehabt, voll im Beruf weiterzumachen. Nachdem er gestorben war, dachte ich allerdings: Jetzt will ich gucken, ob ich’s noch kann, und ich habe mit 67 – wenn andere sich zur Ruhe setzen – nochmals losgelegt. Da kam irgendwie so eine Bockigkeit auch in mir hoch, dass ich wissen wollte, ob’s noch geht. Ich habe dann nochmals richtig angefangen zu arbeiten.
Sie kamen ungewollt ja auch in eine andere Rolle in der Beziehung. Sie wurden zur Pflegerin. Wie war das für Sie? Wie war’s für Ihren Mann? Abhängig zu sein, ist ja auch schrecklich.
Ja, es ist eine Rolle, auf die beide nicht vorbereitet waren. Er war ein Berserker, der unabhängig sein wollte, und ich hatte nie in meinem Leben jemanden gepflegt oder mein Leben so auf jemand anderen eingestellt, dass ich nur für die Person da war. Ein Kind zu haben und grosszuziehen ist ja eine Freude gegen das, was man mit einem Kranken erlebt. Das war sehr schwierig, in diese Rolle hineinzufinden. Für ein Ehepaar oder überhaupt ein Paar ist es ja ungewöhnlich, dass der eine pflegt und der andere abhängig ist. Ich habe in meinem Tagebuch den Satz gefunden: «Liebe muss sein.» Und es stimmt doch: Jemanden zu pflegen, ohne ihn zu lieben, ist unvorstellbar. Genauso wie die Situation, dass man jedes Mal, wenn man den anderen gerade einsalbt, denkt: «Eigentlich wollte ich dich ja gar nicht mehr, ich wollte mich ja trennen von dir.» Das ist ungut für ihn und für einen selbst.
Man sollte also allein schon aus egoistischen Gründen schauen, dass man wieder eine Innigkeit für den anderen empfindet. Das klingt komisch, weil das eine Entscheidung ist. Aber ich glaube, das war wirklich auch eine Entscheidung zur Liebe. Nicht nur für mich, sondern auch für ihn, denn von jemandem abhängig zu sein, ist ja auch eine wahnsinnige Belastung. Das hat ihn auch sehr gequält, und er sagte immer: «Gott, was ich dir alles zumute.» Manchmal haben wir dann gescherzt, und ich sagte: «Na, früher war’s auch nicht einfach mit Dir.» Aber auch er musste lernen, dass er abhängig ist und dass das mit Liebe leichter geht als ohne.
Wir haben schon über den Trost gesprochen. Was mir beim Lesen auch aufgefallen ist: Sie kochen immer wieder, sie freuen sich an Blumen, an Vögeln. Ist das etwas, was Sie schon vorher gut konnten, sich an Schönem erfreuen? Oder haben Sie das erst recht gelernt in dieser Zeit?
Ich glaube, ich habe es tatsächlich sehr viel mehr gelernt durch diese Zeit. Sie haben die Wolken noch vergessen. Ich liebe es, Wolken anzugucken! Es sind oft so wunderbare Wolkengemälde am Himmel, und ich bin dann völlig verzückt. Ich kann dann dasitzen und nur in den Himmel gucken, und wenn gegen Abend noch so ganz unterschiedliche Farben da sind … also ich finde Wolken etwas Herrliches und wirklich Beglückendes. Das hat sich aber tatsächlich in der Zeit sehr entwickelt aus der Notwendigkeit und aus der Suche nach Kraftquellen. So ist dann auch mein zweites Buch entstanden, weil schon im ersten irgendwo stand: «Der Trost der Schönheit.» Da dachte ich mir, dies sei ein Thema, das mich interessieren könnte. Ich habe dann alles, was ich dazu geschrieben hatte, aus dem ersten Buch rausgenommen, um es aufzubewahren, falls ich ein nächstes Buch schreiben würde. Und so ist es dann auch gekommen.
Ihr Mann starb nach zehn Jahren Pflegebedürftigkeit zu Hause. War es klar, dass er zu Hause sterben darf?
Ja, absolut. Das war sein grosser Wunsch, und ich tat alles, um ihm das zu ermöglichen, denn es gab immer wieder Ärzte, die sagten: «Jetzt muss dies noch passieren und jetzt muss er ins Krankenhaus.» Sie hatten teilweise absurde Ideen. Einmal sagten sie, er müsse eine Harnleiterschiene haben, diesen Ausdruck werde ich nie vergessen … bei einem Mann, von dem man wusste, dass er ohnehin nicht mehr lange leben würde. Warum sollte man ihn noch quälen mit solchen Sachen? Das fand ich zum Teil ganz schrecklich, bis ich dann eine Palliativärztin gefunden habe, die die Sache zum Glück gesehen hat, wie sie war. Am Ende, als es wirklich nicht mehr ging und er sich quälte, hat sie ihm dann geholfen und ihm Morphium gegeben. Das war wirklich die Rettung. Es gab manche Ärzte, die mich nicht gerettet haben, sondern die mir nur diesen Weg schwermachten, ihn zu Hause zu behalten. Und es war für mich klar: Er hat immer gesagt, dass er das wolle.
Also es war sein Wunsch, und Sie wollten ihm diesen auch erfüllen.
Unbedingt wollte ich das. Er wollte auf keinen Fall ins Krankenhaus. Er hat sich mit Händen und Füssen dagegen gesträubt, was ich gut verstehen kann. Und irgendwann wusste er auch, dass er sterben wird und hat das einer Freundin gesagt, die es mir dann erzählte. Er hat es mir nie direkt gesagt. Er sagte zu ihr: «Ich werde sterben.» Das war vielleicht zwei Wochen vor seinem Tod.
Spürten Sie den Tod nahen, oder wurde es Ihnen erst durch diese Aussage bewusst?
Nein, es war schon sehr deutlich, dass das jetzt dann irgendwann passieren würde. Und auch da wieder – die Widersprüchlichkeit: Ich wollte ihn gehen lassen, und ich wollte auf keinen Fall, dass er geht. Ich habe in diesem Zwiespalt, in diesem Widerspruch gelebt und musste mich selbst ermahnen, es ihm leicht zu machen und nicht zu klammern. Aber ich wusste ja nicht, wie ich ohne ihn leben sollte, weil ich ja gar nicht wusste, wie es ist, nicht mehr gebraucht zu werden.
Sie sind heute immer in der gleichen Wohnung in Berlin, stimmt das?
Genau, das ist richtig. Ja, das ist interessant: Viele ziehen aus, weil sie sagen: «Ich kann nicht bleiben, wo er gestorben ist.» Meistens sind es ja die Frauen, die gepflegt haben, und die Männer, die gestorben sind. Bei mir war es anders, ich sagte mir: «Ich muss da sein, wo er war. Und ich will da bleiben, wo er gelebt hat und wo wir gelebt haben.» Ich habe in der Wohnung ein bisschen was verändert, weil vorher ja alles rollstuhlgerecht war, und es gab eine grosse Stange an der Wand, an der er das Laufen und das Stehen geübt hatte. Ein paar solche Sachen habe ich entfernt – mit schlechtem Gewissen zunächst, weil ich dachte, das sei, als ob man ihm ein Stück Lebensraum wegnehmen würde. Es hat gedauert, bis ich solche Entscheidungen treffen konnte.
Ich finde, man sollte sich da ganz viel Zeit nehmen und sich nicht treiben lassen von anderen. Irgendwann traf ich nach dem Tod meines Mannes auf der Strasse einen Menschen, der zu mir sagte: «Ach, haben Sie sich schon neu sortiert?» Da dachte ich, das sei jetzt eigentlich nicht das Wort, das ich benutzen würde. Aber ein bisschen denken die Menschen ja auch so, weil sie so ungelenk umgehen mit Krankheit und Tod. – Das ist überhaupt ein Thema, das mich sehr interessiert an dem Buch, das ich geschrieben habe, an dem Erfolg des Buches und den Geschichten, die ich höre: Krankheit wird immer noch sehr an den Rand der Gesellschaft gedrängt, und Menschen scheuen sich sehr, darüber zu erzählen und darüber zu reden.
An meiner Lesung kürzlich in Luzern kam eine Frau zu mir, die sagte: «Ihr Buch hat mir eine Psychotherapie erspart.» Das hat mich sehr berührt. Sie hatte so viel Ähnliches erlebt und konnte es nie erzählen, weil es die anderen – die Unversehrten – nicht wissen wollen. Das empfinde ich als Mangel an Empathie und an Einfühlungsvermögen. Es mangelt allein schon am Versuch, sich einzufühlen in eine Situation. Aber ich war früher sicher genauso. Ich konnte das sicher auch nicht richtig und habe das erst gelernt durch die eigene Erfahrung.
Aber Sie haben trotzdem immer wieder Menschen gefunden, die zugehört haben, nicht erst mit dem Buch?
Ob sie zugehört haben, weiss ich nicht. Ich hatte wunderbare Menschen gefunden, die einen Vorlesekreis für meinen Mann bildeten. Am Ende hatte ich einen Pool von 17 Leuten, die zum Vorlesen kamen, was wirklich fantastisch war. Diesen Menschen verdanken wir unglaublich viel. Sie haben uns aufgebaut und uns sehr geholfen.
Seit dem Tod ihres Mannes sind zehn Jahre vergangen. Wie haben Sie ihn in Erinnerung?
Immer wieder sein Lachen. Immer wieder dieses wirklich hingerissene und hinreissende Lachen. Das rettet mich auch immer wieder von den schlimmen Erinnerungen, von den Ängsten und Panikattacken. Das Lachen war’s damals, und das Lachen ist es heute in der Erinnerung.
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